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Letzte Aktualisierung: 28.03.2024

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Ein bisschen NSU in Dietzenbach?

Investigativ-Journalist Shams Ul-Haq sprach mit den Tätern im Spessartviertel

von Norbert Dörholt

(27.10.2020) Dietzenbach, Spessartviertel. Am 29. Mai 2020 war es wieder so weit. Ein Bagger brannte. Und als Feuerwehrleute und Polizisten in der Nacht am Ort erschienen, mussten sie feststellen, in einen Hinterhalt gelockt worden zu sein. Steine flogen, Verstärkung wurde gerufen. Nur durch glückliche Umstände gab es keine Verletzten. Der Frankfurter Investigativ- Journalist Shams Ul-Haq, ein gebürtiger Pakistaner mit deutscher Staatsbürgerschaft, machte sich auf Spurensuche.

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Shams Ul-Haq, bekannter und mit Preisen ausgezeichneter Investigativ-Journalist, gelang es, direkten Kontakt mit an den Krawallen beteiligten Bewohnern des Spessartviertels in Dietzenbach aufzunehmen wie mit diesem jungen Mann, der in der bewussten Nacht die Polizei mit angegriffen hatte und sich deshalb nur von hinten fotografieren ließ.
Foto: Shams Ul-Haq
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Shams Ul-Haq vor dem Spessartviertel in Dietzenbach, in dem er wochenlang recherchierte.
Foto: Shams Ul-Hac
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Undercover in europäischen Moscheen unterwegs. Das Ergebnis war das Buch "Eure Gesetze interessieren uns nicht" und berichtet davon, wie Muslime radikalisiert werden.
Foto: Verlag orell füssli
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Woher kommt das Aggressionspotenzial junger Migranten, vor allem aus islamischen Ländern, fragte er sich schon lange und begann, nach den Ursachen der Probleme und der Gewalt in deutschen Vorstadtsiedlungen zu suchen. Seine Recherchen führten ihn auch in das Herz der Dietzenbacher Siedlung.

Das Spessartviertel besteht aus tristen Wohnhochhäusern im Speckgürtel der Bankenmetropole Frankfurt. Migrantenfamilien aus 80 Ländern leben dort zusammengewürfelt. Als Folge eines Regionalentwicklungsplans entstanden die Blöcke 1970 bis 1974 und warben anfangs mit attraktiven Neubauwohnungen. Doch es wurde nicht ausreichend in die soziale Infrastruktur und Umfeldgestaltung investiert. Zudem blieben die optimistischen Zuzugserwartungen solventer Bewohner unerfüllt, weshalb die leer stehenden Wohnungen mit Problemfamilien aufgefüllt wurden.

Seit den 1980-er Jahren gilt das anfangs Starkenburgring genannte Viertel als sozialer Brennpunkt, ein deutsches Banlieue. Eine zerstrittene Eigentümergemeinschaft, zwielichtig agierende Hausverwalter, Vermüllung, Zerstörungswut und Kriminalität sind an der Tagesordnung. Ende der 90-er Jahre kamen Forderungen nach einem Abriss auf. Doch die Entscheidung fiel zugunsten einer Sanierung. Sozialarbeiter nahmen sich der Bewohner an. Aber viele Probleme blieben.

Dorthin also machte sich der auch international bekannte Investigativ-Journalist Shams Ul-Haq auf, um vor Ort zu eruieren, was damals dort geschah. Wer ist dieser Shams Ul-Haq? Er ist 45 Jahre alt, gebürtiger Pakistaner, kam mit 15 Jahren als unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber nach Deutschland und hat seit 2001 die alleinige deutsche Staatsbürgerschaft. Er arbeitet bzw. arbeitete als freiberuflicher Journalist u.a. für SonntagsZeitung, Kleine Zeitung-tv, ARD, ZDF, Die Welt, Wiener Zeitung, Tiroler Tageszeitung, Huffington Post, FAZ, Frontal 21und als Asienkorrespondent für N24. Als Terrorismusexperte hatte er kürzlich mit seiner Kollegin Susana Santina für das ZDF-Auslandsjournal im Deradikalisierungscamp der Taliban aus dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet (bei Peshawar) eine Reportage gedreht und berichtete auch für n-tv aus Kabul, wie die Taliban die Coronakrise für sich nutzen.

Während seiner Investigationen in Flüchtlingsunterkünften begann er gleichzeitig mit verdeckten Recherchen in 150 europäischen Moscheen zum Thema Radikalisierung. Das Ergebnis dieser Tätigkeit war das Buch „Eure Gesetze interessieren uns nicht“. Für dieses Buch sowie seinen Recherchebeitrag „Hass aus der Moschee" für ZDFzoom erhielt er 2019 die Auszeichnung „Media Person of the year in Europe 2018/2019". Zurzeit berichtet er für die Internetseite des ZDF zur Lage rund um das Coronavirus in Indien und Iran.

Soweit also zu seiner Person. Was hat er nun erlebt in Dietzenbach, auf den Spuren der Gewalttätigkeiten jener denkwürdigen Nacht. Hier sein Bericht:

Ein ehemaliger Bewohner bringt die Stimmung vieler auf den Punkt: „Wer hier lebt, will eigentlich weg." Nicht nur die Hochhausblocks, eine architektonische Bausünde der 70-er Jahre, sondern auch das soziale Umfeld werden als unattraktiv wahrgenommen. „Zu jeder Tageszeit laute Musik. Im Treppenhaus der Gestank nach Urin und Cannabis", sagt er.

Ein arabisch stämmiger Anwohner berichtet: „Die Lage hat sich ab 2014 wieder verschärft." Die Freizügigkeit für Angehörige osteuropäischer EU-Staaten habe den Anfang gemacht. Ein Jahr später seien dann verstärkt Flüchtlinge in die fünf Hochhäuser gezogen. „Eigentlich haben wir im Rhein-Main-Gebiet einen Wohnungsmangel. Im Spessartviertel aber bekommt man immer eine Wohnung", so erzählen wohnungssuchende Migranten. Lange Asylverfahren, Arbeits- und Perspektivlosigkeit hätten die Kriminalität verstärkt. Drogenhandel fände seitdem wieder auf offener Straße statt.

Diese Gemengelage führte auch zur Eskalation vom 29. Mai. „Der Angriff war eine Rache für das Eindringen der Polizei in eine Wohnung", berichtet ein Jugendlicher. Vier Tage zuvor war vom Hausmeister im Keller der Anlage ein Lager mit Diebesgut entdeckt worden. Rund 250 Fahrräder, ein Motorrad, Baustellengeräte und weiteres mutmaßliches Diebesgut wurde daraufhin von der Polizei sichergestellt.

Ein Jugendlicher erklärt den Zusammenhang zur Attacke auf die Polizisten vier Tage danach so: „Als die Polizei damals die Razzia durchführte, sind einzelne Polizisten sehr gewalttätig aufgetreten. Sie haben Leute zusammengeschlagen. Der Steinangriff sollte eine Vergeltung sein. Das war aber nur gegen die Polizei gerichtet. Es war nicht geplant gewesen, auch die Feuerwehr zu treffen. Die Aktion ist also etwas aus dem Ruder gelaufen." Aber, so ließ er durchschimmern, sei bei ihm und anderen auch ein gewisser Verdacht auf rechte Tendenzen bei der Polizei aufgekeimt, zumal wenn man an die Vorgänge rund um den NSU denke.

Fast ebenso schlecht wie die Polizeiaktion kam Shams Ul-Haq´s  Recherchen zufolge die darauf folgende Presseberichterstattung an: „Die Medien haben die Zahlen aufgebauscht. Es haben nicht 50 Leute die Polizisten angegriffen, es waren viel weniger", behauptet ein junger Mann.

Ul-Haq meint, die Probleme zwischen jugendlichen Migranten und Polizei seien vielfältiger Natur. Zwar würden sich viele von der Polizei gegängelt fühlen, weil sie scheinbar wegen ihres Aussehens öfter kontrolliert würden. Andererseits sei es aber auch schwer, „biodeutsche" Jugendliche wegen Drogenhandels zu kontrollieren, da dort nun einmal „jeder, der Drogen verkauft, einen Migrationshintergrund hat", so ein Anwohner. Die Polizisten müssten sich im Gegenzug regelmäßig respektloses Verhalten gefallen lassen, zum Beispiel sexistische Beleidigungen gegen weibliche Beamte. Hinzu komme, dass viele jugendliche Migranten aus der Unterschicht die Justiz nicht ernst nähmen. Jemand, der in einer von Gewalt geprägten Gesellschaft sozialisiert worden sei, empfinde es als Freibrief, nach Festnahme und Feststellung der Personalien umgehend wieder nachhause entlassen zu werden, selbst wenn er gerade jemanden ins Krankenhaus geprügelt habe.

Ul-Haq: „Machistische Wertmuster dominieren in der Szene und machen eine Integration in die Gesellschaft schwerer. Nicht Bildung oder berufliche Qualifikation erhalten hohe Wertschätzung, sondern äußerliche Merkmale: Trainierte Muskeln, ein großes Auto mit quietschenden Reifen und aufgedrehter Stereoanlage. „Warum soll ich ein Fahrrad oder Handy teuer im Geschäft kaufen? Der Ahmed kann es mir für ein Sechstel des Preises besorgen", sagt ein Jugendlicher.

„Es bestürzt mich zu sehen, dass dort viele Kinder aufwachsen. Diese sehen und lernen rasch, dass eine gute Schulausbildung und ein Beruf gar nicht nötig sind. Man kann in kurzer Zeit auf einfache Weise viel Geld mit kriminellen Geschäften machen. Sie lernen, sich Waren günstig auf illegalem Weg zu beschaffen", erzählt ein ehemaliger Bewohner. Viele sozialpädagogischen Maßnahmen sind da nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hier steckt großer gesellschaftlicher Sprengstoff.

Der soziale Zusammenhalt im Viertel hat sich teilweise vom Rechtsstaat entkoppelt. Für Hinweise zur Ergreifung der Täter vom 29. Mai lobte die Staatsanwaltschaft Darmstadt mittlerweile 2000 Euro aus. Doch das Angebot trifft auf wenig Gegenliebe. „Wir wissen schon, wer dabei war, verraten aber unsere Brüder nicht. Klar gibt es manche, die 2000 Euro gerne mitnehmen würden. Aber die könnten sich danach nicht mehr im Viertel blicken lassen", sagt ein junger Mann.

Auf der anderen Seite stehen die Vorbehalte der Gesellschaft. So seien die Chancen für eine Arbeitsstelle bereits geringer, wenn nur eine Wohnadresse aus dem Spessartviertel im Bewerbungsbogen zu lesen sei. Eine Anwohnerin schildert ein diesbezügliches Erlebnis: „Die Jobcenter-Mitarbeiterin riet mir, bei der Bewerbung als Arzthelferin besser die Adresse von Verwandten zu verwenden, die nicht im Spessartviertel wohnen."

Ein ehemaliger Bewohner aus Pakistan, der den Absprung geschafft hat, der heute in einem kleinen Einfamilienhaus lebt, sieht nur eine Lösung: „Polizei und Jugendliche sollten offen miteinander reden, abseits von Razzien und Kontrollen.“

Und der Investigativ-Journalist Shams Ul-Haq zog nach Abschluss seiner Recherchen folgendes Resümee: „Die einzige nachhaltige Lösung liegt im Abriss der Blöcke und in der weiträumigen Verteilung der Einwohner. Doch das erscheint derzeit unrealistisch. Bis dahin werden vermutlich noch mehr Sozialarbeiter, vor allem solche mit Migrationshintergrund, zumindest versuchen müssen, die Probleme etwas zu begrenzen.“